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Leitkultur - Ein Begriff ohne Inhalt

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Im Herbst steht die nächste Bundestagswahl an und fast vorhersagbar haben konservative Politiker den Begriff Leitkultur aus der Mottenkiste hervorgekramt und verwenden ihn. Aber was genau ist denn diese Leitkultur eigentlich? Ein bekannter Scherz sagt, Zivilisation sei, wenn der Mensch eine Badewanne besitze, Kultur sei, wenn er sie benutze. So banal dieser Scherz auch ist, so deutlich macht er doch das Problem, Kultur überhaupt zu definieren. Beim Begriff Leitultur ist eine Definition noch viel schwerer. Ganz korrekt ist das natürlich nicht. Die Definition könnte vielleicht sogar noch gelingen, wollte man Leitkultur definieren als

Die Summe der Eigenheiten und Traditionen eines Volkes

Schöne Theorie, nur nützt diese Definition im praktischen Alltag wenig, solange wir nicht in der Lage sind, sie mit Inhalt zu füllen, solange wir nicht verbindlich sagen können, was genau denn die Eigenheiten und Traditionen sind, auf die es ankommt. Was ist denn das verbindende Element das uns als Deutsche definiert - vom Ausweis einmal abgesehen? Schaut man vom Ausland auf Deutschland, so ist das Bild der Deutschen, aus welchem Grunde auch immer, geprägt von der bayrischen Kultur mit Dirndl, Lederhosen, Bierzelt und Kalbshaxen. Ein Hamburger oder Berliner wird sich damit allerdings nur schwerlich identifizieren können. Und dies ist auch schon das erste Problem. Es fehlt eine übergreifende, verbindende, nationale Identität.

Dass Deutschland seit dem Ende der Dritten Reiches ein Problem mit seiner eigenen Identität hat ist schon von vielen Seiten ausgesprochen worden. Aber warum ist es selbst annährend 70 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs noch immer nicht möglich, ausserhalb eines sportbezogenen Kontextes wie der Fussballweltmeiterschaft zu sagen „Ich bin stolz, Deutscher zu sein!“, ohne dass man dafür direkt in eine Ecke mit Neonazis gestellt wird? Warum dieser Mangel an Nationalstolz, an Identifikation mit dem Heimatland, der doch in den meisten anderen Ländern als völlig selbstverständlich angesehen wird? Egal ob Franzosen, Engländer oder Amerikaner, sie alle haben ihren Nationalstolz und verheimlichen diesen auch nicht. Was ist anders in Deutschland? 

Wenn wir die Antwort auf diese Frage finden wollen, dann müssen wir uns die geschichtliche Entwicklung und Entstehung des Landes ansehen. Bereits der Name deutet auf eines der Probleme hin. Bundesrepublik Deutschland – ein Bund von Ländern bildet Deutschland, es ist kein weitgehend homogener Nationalstaat, wie dies bei Frankreich oder England der Fall ist. Mentalität und Kultur in Hamburg sind nun einmal sehr verschieden von der in Bayern und diese wiederum von den Westfalen. Und selbst viele unsere Bundesländer sind aus rein verwaltungstechnischen Überlegungen in ihren heutigen Formen entstanden und haben keinen Bezug zu den Grenzen der kulturellen Regionen. Wer an dieser Aussage zweifelt, der werfe einen Blick auf die kulturellen Unterschiede zwischen Rheinländern und Westfalen – zusammengefasst im Bundesland Nordrhein-Westfalen. Selbst ein halbes Jahrhundert nachdem dieses Bundesland geschaffen wurde kann von einer Identität als Nordrheinwestfale keine Rede sein. Im Bundesland Bayern verhält es sich ähnlich mit den eigentlichen Bayern und den Franken, die im Norden des Bundeslandes, in der Region um Nürnberg, leben. Wenn aber nicht einmal die Menschen, die als direkte Nachbarn in einem Bundesland zusammenleben, eine gemeinsame kulturelle Identität entwickelt haben, wieviel weniger kann man dies dann für das grosse Gebilde Bundesrepublik Deutschland erwarten? 

In der Zeit des Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1945 war Deutschland ein typischer Nationalstaat mit einer starken Zentralregierung; die weiterbestehende Gliederung in Länder war rein verwaltungstechnischer Natur und diese waren lediglich ausführende Organe der Zentralregierung, die ganz bewusst die nationale Identität mit allen Mitteln gestärkt und erreicht hatte, dass man sich als Deutscher fühlte und auch stolz darauf war. Natürlich wollen wir uns heute zu Recht vom Nationalsozialismus distanzieren, aber müssen wir dafür auch über 60 Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland noch auf unseren Nationalstolz verzichten? Ganz offenbar war es uns nicht möglich diese Zeit einfach hinter und zu lassen und ein Nationalgefühl zu entwickeln, dass sich auf die Bundesrepublik Deutschland bezieht. 

Der eine Grund hierfür dürfte in dem Kollektivschuldverständnis der Gründergeneration liegen. Man war sich der Greueltaten Nazideutschlands bewusst, die Welt schaute mit sehr kritischen Augen auf die junge Republik und seit den Anfängen 1949 bis zum heutigen Tage haben deutsche Politiker in ihrem geradezu servilen Auftreten gegenüber den USA alles getan, ein Gefühl der nationalen Emanzipation gar nicht erst aufkommen zu lassen. Die Affäre um die enorm weitreichende und in den privaten Lebensbereich praktisch aller Bürger eindringende Überwachung durch die NSA ist hierfür nur das jüngste Beispiel. Wen interessieren schon die Grundrechte der eigenen Bevölkerung, wenn man nur den guten Freund jenseits des Atlantiks nicht verärgert? Braucht man sich dann noch darüber zu wundern, dass es mit dem nationalen Selbstwertgefühl nicht weit her ist? 

Der zweite, wenigstens ebenso wichtige Grund ist die Sprache beziehungsweise Terminologie. In dem Bestreben, uns vom Nationalsozialismus zu distanzieren, bemühen wir uns automatisch, Phrasen, die das Regime benutzt hat, zu vermeiden. Aber gerade der Themenkreis um den Nationalstolz ist von der nationalsozialistischen Propaganda immer und immer wieder für ihre ideologischen Zwecke und zuletzt auch für Durchhalteparolen in einem schon verlorenen Krieg instrumentalisiert worden. Man könnte also fast sagen, uns fehlen heute buchstäblich die Worte, um Nationalstolz auszudrücken und dabei zugleich Anlehnungen an den Nationalsozialismus zu vermeiden. 

Unmittelbar vor dem Dritten Reich, zwischen 1918 und 1933 gab es die Zeit der sogenannten Weimarer Republik, die in ihrer territorialen Gliederung bei der Gründung 24 Länder umfasste, die auf die Gliederstaaten des Kaiserreiches zurückgingen und bis 1925 auf 18 reduziert wurden. Dabei waren Preussen die vorherrschende Grossmacht und viele der kleineren Länder waren völlig von preussischem Gebiet umgeben. Lediglich Baden, Bayern, Sachsen und mit Einschränkung noch Württemberg waren als relativ grosse und zusammenhängende Flächenländer weniger dem preussischen Einfluss unterworfen. Wenn man also von einer vorherrschenden Kultur sprechen kann, dann wäre es also eher eine preussische denn eine deutsche Kultur gewesen. 

Die von allen gemeinsam zu tragende Bürde der Reparationszahlungen und das Gefühl für einen Krieg allein verantwortlich gemacht worden zu sein, zu dessen Entstehung viele Staaten ihren Teil beigetragen hatten, förderte zwar auf der einen Seite das Gefühl, eine Nation zu sein, auf der anderen Seite aber war die Weimarer Republik kein gefestigter Staat sondern in der jungen Demokratie stritten die Kräfte über das gesamte politische Spektrum hinweg – vom der Kommunistischen Partei bin hin zur Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und der NSDAP – oftmals sogar nicht nur im Parlament sondern auch bei gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den radikal-extremistischen Parteien auf offener Strasse. Bedenkt man noch dazu die relativ kurze Zeit des Bestehens von nicht einmal 15 Jahren, dann wird schnell deutlich, dass es schwer wird aus dieser Zeit eine nationale Identität abzuleiten, die über Nationalhymne und Flagge hinausgehend auch wirklich in den Köpfen der Menschen ankommt. 

Im davor existierenden Kaiserreich (1971 – 1918) war die territoriale Unabhängigkeit der einzelnen Länder sogar noch grösser. Das ehemalige Preussische Reich bildete den grössten Teil des Reiches, aber Sachen, Bayern und Württemberg waren zum Beispiel eigene Königreiche. Und auch die noch weiter zurückliegenden Staatsgebilde Norddeutscher Bund (1867 – 1971) und Deutscher Bund (1815 – 1866) waren – wie schon die Namen zeigen – Zusammenschlüsse von ansonsten eigenständigen Reichen von denen sich eine nationale Identität Deutschlands nicht ableiten lässt. 

Abgesehen von wenigen Jahren in der Weimarer Republik haben wir also nur die Zeit seit 1949, in der sich hätte eine wirkliche nationale Identität und ein nationales Selbstbewusstsein hätte entwickeln können. Das sind gerade einmal 68 Jahre – noch dazu unter den erschwerenden Umständen des vorausgegangenen nationalsozialistischen Regimes, die Deutschland Zeit hatte, eine nationale Identität zu entwickeln. Eine sehr kurze Zeit, verglichen mit den hunderten von Jahren, die zum Beispiel Frankreich und England als Nationalstaaten bestehen und in denen sie ihre nationale Identität entwickeln konnten.


 An anderen Stellen ist der heutige Mangel an nationaler Identität und damit die Inhaltsleere des Begriffs Leitkultur selbst verschuldet. Die Deutsche Mark und damit verbunden das Wirtschaftswunder waren unzweifelhaft die grösste Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Man war stolz auf die D-Mark, auf ihre Stärke und den Wohlstand, der mit ihr verbunden war. Die D-Mark war mehr als nur eine beliebige Währung, sie stand für das neue, das friedliche und wirtschaftlich erfolgreiche Deutschland. Sie war ein national verbindendes Element. Mit der Einführung des Euros - wohlgemerkt gegen den Willen des Grossteils der Bevölkerung, die jedoch von Seiten der Politik ganz bewusst nicht befragt wurde (übrigens als einziges Land in der Europäischen Union (alle anderen Länder haben eine Volksabstimmung über die Euro-Einführung abgehalten) - ist dieses identitätsstiftende Element komplett weggefallen. Mit dem Euro identifizieren tut sich niemand. Wir sind schon froh, wenn wir mal eine Woche lang von keinen neuen Euro-Problemen in der Presse lesen. Auch Sprache ist ein verbindendes Element, das die Zugehörigkeit zu einer kulturellen Gruppe definiert. Zwar teilen wir unsere Sprache mit den Österreichern und - mit Abstrichen die durch den eigenständigen Dialekt bedingt sind - auch mit den Deutschschweizern, aber zumindest eine gewisse Identifikation war über Jahrzehnte hinweg gegeben. Weniger in der gesprochenen Umgangssprache - hier dominiert je nach Region die lokale Mundart - aber dafür umso mehr in der einheitlichen und klar geregelten Schriftsprache, mit der sich jeder identifizieren konnte. Der Duden war lange Zeit das Sinnbild für korrektes Deutsch. War, denn mit der Rechtschreibreform der 90er Jahre wurde auch die Identifikation mit der Sprache von der Politik zerstört. Abermals gegen den Willen der Bevölkerung wurde diese Reform durchgedrückt und eine neue Schreibweise eingeführt, mit der man sich nicht länger identifizieren konnte. Bis zum heutigen Tag fühlen sich viele Worte beim Lesen schlicht falsch an.

Wenn aber aufgrund der Geschichte ohnehin nur wenige verbindende Elemente vorhanden waren und diese wenigen durch die Politik auch noch mutwillig oder zumindest leichtfertig zerstört wurden, was bleibt am Ende noch übrig, um den Begriff Leitkultur mit Leben zu füllen? Und wenn wir keine Leitkultur haben, wie können wir dann eine sinnvolle Integrationspolitik betreiben bei der die kulturelle Integration der alles entscheidende Schritt ist?

Gernot Ortmanns

Als klinisch tätiger Arzt und ehemaliger Unternehmensberater und Projektmanager ist das Spektrum der Themen, die mich interessieren sehr breit. Die sehr internationale Ausrichtung - ich habe neben Deutschland auch in Australien und der Schweiz gelebt und gearbeitet - verleiht mir eine Perspektive, die ich ohne diese Erfahrung so nicht hätte. Ich hoffe, ich kann meinen geneigten Lesern ein Stückweit diese Perspektive vermitteln und zu einer differenzierteren, vielschichtigeren Sicht der Dinge beizutragen.

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